Tausend strahlende Sonnen by Khaled Hosseini

Tausend strahlende Sonnen by Khaled Hosseini

Autor:Khaled Hosseini [Hosseini, Khaled]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 3827070066
Herausgeber: Bloomsbury Verlag
veröffentlicht: 2010-01-01T23:00:00+00:00


30

Laila

Tags darauf blieb Laila den ganzen Tag über im Bett. Sie lag unter der Decke, als Raschid morgens den Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte, dass er zum Friseur gehe. Sie war immer noch im Bett, als er am späten Nachmittag zurückkehrte und ihr seinen neuen Haarschnitt vorführte, einen neuen dunkelblauen Nadelstreifenanzug aus zweiter Hand und den Ehering, den er für sie gekauft hatte.

Er setzte sich zu ihr aufs Bett, löste langsam und mit großer Gebärde die Schleife der Verpackung, öffnete das Kästchen und zupfte mit spitzen Fingern den Ring daraus hervor. Er habe Mariams alten Ehering dafür eingetauscht, erklärte er.

»Das macht ihr nichts aus. Glaub mir. Sie wird es nicht einmal bemerken.«

Laila verkroch sich auf die andere Seite des Bettes. Sie konnte Mariam hören, die unten Wäsche bügelte.

»Sie hat ihn ohnehin nie getragen«, sagte Raschid.

»Ich will ihn nicht«, flüsterte Laila. »Nicht unter diesen Umständen. Sie sollten ihn zurückbringen.«

»Zurückbringen?« In seinem Blick flackerte Missmut auf, der aber sogleich wieder verschwand. Er lächelte. »Ich musste noch dazuzahlen, und das nicht zu knapp. Es ist ein sehr viel besserer Ring. Zweiundzwanzig Karat Gold. Fühl mal, wie schwer. Na los, nimm ihn in die Hand. Nein?« Er schloss das Kästchen. »Wie wär’s mit Blumen? Das würde dir doch gefallen, oder? Hast du irgendwelche Lieblingsblumen? Margeriten, Tulpen, Flieder? Keine Blumen? Gut. Ich kann auch nichts damit anfangen. Ich dachte nur … Nun, ich kenne da einen Schneider in Deh-Mazang. Da sollten wir morgen vielleicht mal hingehen und dir ein schönes Kleid anpassen lassen.«

Laila schüttelte den Kopf.

Raschid kniff die Brauen zusammen.

»Mir wär’s lieber …«, hob Laila an.

Er legte ihr eine Hand in den Nacken. Laila zuckte unwillkürlich zusammen und wimmerte. Seine Berührung fühlte sich an wie ein kratziger feuchter Wollpullover auf nackter Haut.

»Ja?«

»Mir wär’s lieber, wir brächten die Sache möglichst schnell hinter uns.«

Raschid riss den Mund auf. Dann grinste er und zeigte gelbe Zähne. »Du kannst es wohl kaum erwarten«, sagte er.

In den Tagen vor Abdul Sharifs Erscheinen war Laila fest entschlossen gewesen, nach Pakistan auszuwandern. Auch danach hätte sie den Mut noch aufgebracht wegzufahren, irgendwohin, möglichst weit weg von dieser Stadt, wo an jeder Straßenecke eine Falle zu befürchten war und in jeder Gasse ein Gespenst lauerte, das wie ein Springteufel über sie herzufallen drohte. Sie hätte die Risiken auf sich genommen.

Jetzt aber gab es diese Möglichkeit nicht mehr.

Nicht mit der täglichen Übelkeit, den schwellenden Brüsten und der Gewissheit, dass die Regel ausgesetzt hatte.

Laila sah sich im Geiste in einem Flüchtlingslager, auf steinigem Wüstengelände zwischen Tausenden von provisorischen Zelten aus Plastikplanen, an denen ein kalter Wind zerrte. Sie malte sich aus, in einem dieser Zelte ein Kind, Tariks Kind, zur Welt zu bringen, einen leblosen Wurm mit bläulich grauer Haut. Sie stellte sich vor, wie dieser winzige Körper von Fremden gewaschen und, mit einem gelbbraunen Tuch umhüllt, auf freiem Feld und unter kreisenden Geiern in ein ausgehobenes Loch gelegt würde.

Wie sollte es ihr jetzt noch möglich sein zu fliehen?

Mit düsterem Sinn machte Laila eine Bestandsaufnahme der Menschen in ihrem Leben: Ahmad und Noor, beide gefallen; Hasina, verschwunden; Giti, tot, so auch Mami und Babi.



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